Diese Veranstaltung ist schon vorbei

Wann:

Do 25. Apr 2019, 20:30

Wo: Porgy & Bess, Riemergasse 11, 01. Innere Stadt, Wien

Altersbeschränkung: Alle Altersklassen

Eingetragen von: Oeticket

Er ist einer der außergewöhnlichsten Pianisten unserer Zeit: Lubomyr Melnyk. Am 7. Dezember 2018 veröffentlicht Erased Tapes Fallen Trees, das neue Album der musikalischen Naturgewalt, der sein ganzes Leben dem Klavier gewidmet hat und aufgrund seiner einzigartigen Klangsprache auch als „Prophet des Pianos“ bezeichnet wird.

Er selbst feiert nur wenige Tage nach der Veröffentlichung seinen 70. Geburtstag, und auch wenn der Albumtitel nach Herbststimmung klingt, deutet bei Melnyk nichts auf Tempodrosselung oder gar Ruhestand hin: Von der Kritik gefeiert, trat er zuletzt als Co-Headliner im Rahmen der Feierlichkeiten zum 10. Jubiläum von Erased Tapes im Berliner Funkhaus als auch in der Londoner Royal Festival Hall auf – und seine Anhängerschaft ist jetzt, nach so vielen Jahren, nicht nur global und größer denn je, sondern auch kontinuierlich im Wachsen begriffen. Erst jetzt entwickelt seine Karriere jene Dynamik, jenen unglaublichen Sog, den sein einzigartiges Pianospiel schon immer ausgezeichnet hat.

Klangketten wie Wasserfälle, Tonfolgen, die wie Schluchten, wie reißende Klangströme funktionieren: Die Musik von Lubomyr Melnyk hat stets etwas von Naturgewalten, etwas Erhabenes. Auch Fallen Trees wurzelt auf dieser besonderen Bindung zur Umwelt, denn die zentrale Inspirationsquelle war eine lange Zugreise durch Europa. Als der Fernzug schließlich einen düsteren Wald durchquerte, sah Melnyk vor seinem Fenster eine Reihe von kürzlich gefällten Bäumen: „Und sie sahen glorreich aus“, berichtet der Komponist. „Auch wenn man sie getötet hatte, waren sie noch längst nicht tot. Der Anblick hatte etwas Trauriges – aber zugleich war da auch Hoffnung.“ Dieses Gefühl von Traurigkeit, in dem auch Zuversicht mitschwingt, zieht sich denn auch durch das nach den Bäumen benannte Album. Genau genommen hat Melnyk selten Musik aufgenommen, die dermaßen von Melancholie und Bedauern gezeichnet ist – und dabei doch so hingerissen, ja geradezu strahlend anmutet.

Neben Vergleichen mit Steve Reich und der Postrock-Band Godspeed You, Black Emperor!, feierte Pitchfork das 2015 veröffentlichte Album Rivers And Streams für seine „anhaltende Konzentration und ekstatische Energie“. Diese ist auch auf Fallen Trees zu hören, wobei Melnyk hier streckenweise weniger wuchtig, ein wenig leiser klingt, und die dazugehörige Stimmung etwas düsterer, wehmütiger ausfällt. Andere Passagen des Albums muten hingegen kaleidoskopisch an, trotz ihrer tiefen Verwurzelung in den Wundern der Natur: Töne wie fraktales Gestöber, das ein breites Spektrum an Farben und Schattierungen mit sich bringt.

Titelgebend ist das aus fünf Teilen bestehende, insgesamt 20-minütige „Fallen Trees“, eines der ambitioniertesten und anspruchsvollsten Stücke, das Melnyk jemals geschrieben hat. Während sämtliche Kompositionen wie gehabt allein aus seiner Feder stammen, hat Melnyk auch auf Fallen Trees mit einer ganzen Reihe von befreundeten Erased Tapes-Kollegen gearbeitet – so z.B. mit der in Berlin lebenden Cellistin Anne Müller, die sonst auch gelegentlich mit Nils Frahm zusammenarbeitet. Die japanische Gesangskünstlerin Hatis Noit, deren Debüt-EP Illogical Dance zu Beginn des Jahres beim Label erschien und ihr viel Kritikerlob bescherte, steuert ihren ätherischen Gesang bei, der geheimnisvoll über den Wirbeln und Strudeln von Melnyks Klavierspiel schwebt, um dann ganz tief abzutauchen. Und auch der US-Amerikaner David Allred, der jüngste Neuzugang des Labels, ist mit von der Partie: „Eine wahre Kollaboration war das, mehr noch als bei meinen früheren Alben“, sagt auch Melnyk, der betont, wie viel er seinem Produzenten Robert Raths zu verdanken hat, dem Gründer von Erased Tapes.

In der Ukraine im Dezember 1948 geboren, begann Lubomyrs einzigartige Beziehung zum Klavier schon in frühester Kindheit. Auch sorgten seine Eltern, die wenige Jahre nach seiner Geburt nach Kanada ausgewandert waren, schon früh dafür, dass er Klavierunterricht bekam. Laut eigener Aussage war er augenblicklich fasziniert von den unendlich vielen Möglichkeiten, die ihm dieses Instrument bot: „Man kann auf dem Klavier ganze Welten erschaffen“, sagt er heute. „Mir wurde damals klar, dass es ein ganzes Orchester, ein ganzer Chor von Klängen sein konnte.“

Nachdem er klassisches Klavier studiert und am St. Paul’s College in Winnipeg seinen Abschluss in Latein und Philosophie gemacht hatte, landete Melnyk Anfang der Siebziger in Paris. Obdachlos und knapp bei Kasse, verdiente er sich das Nötigste, indem er Tanzstunden der experimentellen Choreografin Carolyn Carlson am Klavier begleitete. Eine wichtige Station in seinem Leben, denn er hatte eines Tages eine Epiphanie: Während er den Tänzern und Tänzerinnen von Carlsons Kollektiv zuschaute, begann er damit, eine andere Art von Begleitmusik zu spielen, die auf spontanen Einfällen, auf Improvisationen basierte; anstatt sich an klassische Vorgaben und Konventionen zu halten, folgte er vielmehr dem Tanz, den Bewegungen des Kollektivs. Er setzte das Tonhaltepedal dazu ein, um Echo- und Halleffekte zu kreieren, und verwandelte frei fließende Klangkaskaden so in hypnotische Klangwellen. Schließlich gab er dieser Art von Musik auch einen Namen: „Continuous Music“ – ein Begriff, den er bis heute dafür verwendet.

Kritiker haben darauf verwiesen, dass Melnyks Musik Parallelen zu Ravi Shankar und anderen Einflüssen aus der Musikgeschichte Indiens aufweist, wie auch zu Minimal-Music-Vertretern wie Steve Reich oder Philip Glass, die mit vergleichbar eindringlichen, auf Wiederholung basierenden Strukturen arbeiten. Melnyk selbst erwähnt den US-Komponisten Terry Riley, insbesondere dessen bahnbrechendes Stück „In C“ aus dem Jahr 1964, das ihm, wie er sagt, „die ganze Welt eröffnet hat“. Wenn man ganz genau hinhört, so Melnyk weiter, könne man auch trällernde Konturen aus der traditionellen Folk-Musik der Ukraine in seinen Kompositionen ausmachen.

Trotz dieser Verwandtschaften liegt man jedoch näher bei der Wahrheit, wenn man sagt, dass Melnyks Werk mit nichts zu vergleichen ist: Er ist ein Pionier, der seine eigene Klangsprache geschaffen hat, jahrzehntelang seinen ganz eigenen Weg gegangen ist. „Anderen Leuten gegenüber bezeichne ich mich auch gar nicht als Komponist“, sagt er weiter. „Ich weiß selbst nicht so genau, was ich eigentlich bin.“

Melnyk komponiert so, wie er sein Instrument, das Klavier, spielt: Er erspürt Linien und Figuren, ertastet rhythmische Zellen, die brodeln, sich schlängeln, sich immer weiter ausdehnen, bis daraus riesige, ineinander verflochtene Klanggerüste werden. Fragt man ihn schließlich, ob er in Worte fassen kann, wie es sich anfühlt, mit und in dieser Musik zu leben, sagt er: „Mein ganzer Körper verwandelt sich, wenn ich spiele – es fühlt sich wirklich so an. Meine Finger fühlen sich an wie die Winde der Welt; als würde man alle greifbaren Dimensionen leibhaftig übersteigen und transzendieren.“